Eine Mathematiklehrerin erkrankt, zunächst für ein paar Tage, dann stellt sich heraus, dass sie für zwei Monate ausfallen wird. Mehrere Klassen stehen kurzfristig ohne ihre Fachlehrerin da. Was geschieht?
Deutschland: Der Unterricht in den betroffenen Klassen wird von Lehrern im Haus vertreten. Jemand mit Überblick, oft jemand aus der (erweiterten) Schulleitung, findet Kollegen, die in den entsprechenden Stunden keinen eigenen Unterricht haben und teilt entsprechende Vertretungen zu. Die betroffenen Kollege werden dann über Vertretungsplan, Schulportal, Telefon oder Ähnliches kurzfristig informiert und stehen dann in der Verantwortung, die entsprechenden Stunden in der Klasse zu halten.
Teilweise werden es Lehrer sein, die die Klasse in einem anderen Fach sowieso unterrichten, diese werden dann gegen den Widerstand der Klassen („Aber wir haben doch Mathe!“, „Hab meine Deutschsachen nicht dabei.“, „Können wir Hausis machen?“) versuchen, in ihrem eigenen Fach voranzukommen. Wenn die Klassen Glück – oder je nach Perspektive auch Pech – haben, sind auch ein paar Mathelehrer dabei, die in der betroffenen Klasse dann tatsächlich den aktuellen Stoff weiterführen können. Und dann wird der Rest von Lehrern aufgefüllt, die gerade Zeit haben. Die Resultate sind dann meist Hausaufgabenstunde, Lesestunde, Malstunde, Irgendwie-beschäftigen-hauptsache-leise-Stunde, Filmgucken oder Rausgehen. Häufig mündet es auch in die Klassiker der Klassenzimmerspiele wie Klassenmemory, Galgenmännchen oder Stadt-Land-Fluss. In ganz, ganz, ganz seltenen Fällen darf auch mal Stunde ausfallen, aber nur wenn es eine Randstunde in „unwichtigen“ Fächern am Nachmittag ist.
Sobald klar wird, dass die Mathelehrerin längerfristig ausfällt, werden die Klassen innerhalb des Kollegiums fest vergeben. Wer das übernimmt, leistet dann vorübergehend Mehrarbeit, die ab einer gewissen Stundenzahl pro Monat zusätzlich abgerechnet werden kann und dementsprechend den Verdienst erhöht. In den seltenen Fällen, in denen die Schule noch Budget übrig hat, kann eine externe Aushilfe eingestellt werden. Theoretisch gibt es auch „mobile Reserven“, deren Kerngeschäft es ist, kurzfristigen Unterrichtsausfall an anderen Schulen abzufangen. Deren Zahl ist aber bei Weitem nicht ausreichend, um wirkungsvoll zu sein, zumindest sind mir am bayerischen Gymnasium in über 10 Jahren nicht mal eine Handvoll Lehrkräfte dieser Art über den Weg gelaufen, und wenn, dann bei ganz langfristigen Geschichten. Die erkrankte Lehrkraft erhält ihr reguläres Gehalt bzw. ihren Sold weiterhin, gesundet hoffentlich bald und kehrt dann erstarkt und motiviert nach zwei Monaten zurück.
Finnland: Der erste Tag der Erkrankung läuft wie in Deutschland, kurzfristige Vertretungen werden intern aufgefangen, die Kollegen machen das Beste draus. Interessant wird es ab Tag zwei. Bereits ab da wird nämlich jemand von außen geholt, der die Kollegin vollumfassend und in allen Stunden vertritt. Jede Schule hat Telefonnummern von Leuten, die qualifiziert sind und oft Zeit haben. Wenn die Schule selbst niemanden kennt, der einspringen kann, bedient sie sich im gut gefüllten Vertretungslehrerpool. Dort schwimmen arbeitslose LehrerInnen, FreiberuflerInnen, StudentInnen und andere mehr oder weniger gut qualifizierte Freiwillige, die bereit sind kurzfristig einzuspringen. Dabei gilt grundsätzlich, dass die erkrankte Lehrkraft den Unterricht für die Vertretung anfangs so weit vorbereitet, dass diese ohne eigenen Vorbereitungsaufwand und sehr kurzfristig Vertretungsstunden halten kann. Gerne kommt ein Anruf auch mal um 7:20 Uhr: „Können Sie heute von 8 – 16 Uhr kommen? Und morgen auch?“ Am Ende des Vertretungszeitraumes dann, egal ob eine Doppelstunde oder ein Monat, wird abgerechnet, ein Formular ausgefüllt, unterschrieben, die Stadt überweist Geld. Fertig.
Für die Klassen bedeutet das, dass fast jede Fachstunde qualifiziert vertreten wird, es gibt keine längeren Pausen. Unterrichtsausfall findet praktisch nicht statt. Die Schüler bleiben im Rhythmus und im Stoff, die Progression wird vielleicht verlangsamt, aber bleibt erhalten. Jeder Kollege hat ein eigenes Diensttelefon und meist auch einen eigenen Dienstlaptop, Geräte, die der Ersatz einfach weiterverwenden kann. Unangekündigte Tests und mündliche Rechenschaftsablagen (= Abfrage) gibt es ohnehin nicht. Da kommt jemand, der sein Fach versteht schon ganz gut durch.
Ist das jetzt gut? Zunächst mal ja; die erkrankte Mathelehrerin kann sich guten Gewissens auskurieren und muss nach ihrer Rückkehr auch nicht rödeln, hetzen und tricksen wie eine Irre um ihren Stoff durch zu bekommen und damit die Ansprüche von Lehrplan und Eltern zu erfüllen. Der Rest des Kernkollegiums wird entlastet, da es weitere, externe Schultern gibt, die die Last der Vertretungen tragen. Für alle anderen Beteiligten lohnt es sich theoretisch, auch wenn die deutschen SchülerInnen, die sich ihre Erholung gerne in den Vertretungs- und Freistunden holen, erstmal aufstöhnen würden, wenn plötzlich die entspannten Pseudovertretungsfreistunden wegfielen. In dem Zusammenhang müsste man dann eben auch die Pausengestaltung überdenken, aber dazu mehr beim nächsten Mal.
Der kleine Haken an der Sache ist, dass auch in Finnland gut qualifizierte Fachlehrer, die Nichts zu tun haben und auf Abruf bereitstehen, nicht auf Bäumen wachsen. Ich war eines Morgens einmal der Zwölfte, den ein Schulleiter auf der Suche nach einer Vertretung am selben Tag in Verzweiflung anrief. Zudem ist nicht jede Vertretung eine gute Vertretung. Klar, ein erfahrener Übungsleiter kann eine Sportlehrervertretung übernehmen. Wenn aber ein arbeitsloser Musiker im Spanischunterricht steht, weil sich sonst niemand findet, ist der Wirkungsgrad der Vertretung dann doch eingeschränkt. Ist aber immer noch besser als gar kein Unterricht. Oder?
Fazit: Gute Idee. Teuer und aufwändig, und deshalb wahrscheinlich schwer durchzusetzen, aber lohnt sich.