”Kocinski. Hallo. Sie müssen der Englischlehrer vom Tom sein.“ – „Schmeißer, guten Tag. Nehmen Sie doch Platz.“
Das war einfach. Die Mutter hatte alle Vorlagen geliefert. Sebastian hatte nur zwei Englischklassen, und nur in einer gab es einen Tom. Gut, der Nachname stimmte nicht überein, aber das war mittlerweile ohnehin eher Ausnahme als Regel. Tom Berger, 8b, letzte Schulaufgabe 5, Schwätzer, Schnarcher. Easy. Er war durchaus erleichtert, konnte er sich doch das ganze Herumgeeier zu Beginn des Gespräches sparen, bei dem man unauffällig herausfinden musste, um wen sich das Gespräch gerade dreht. Besonders schlimm waren Emmas. Und Leons. Da reichten meist nicht einmal Klasse und Haarfarbe, um eindeutig zuordnen zu können. Die Mutter schien recht jung zu sein für einen Achtklässler. Vielleicht 33, höchstens 35. Bestimmt alleinerziehend.
Die Mutter ließ Sebastian keine Zeit für eine Frage. „Wissen Sie. Ich mache mir echt Sorgen um Tom. Die letzte Schulaufgabe war ja nicht so gut und er steht ja jetzt in Englisch auf 5.“ legte sie los. Sebastian kraulte seinen Bart und brummte ein konzentriertes: „Mmmmh, mmmh.“ Sie zögerte leicht: „Das war ja schon die letzte Schulaufgabe. Und jetzt wollte ich nur, ich wollte mal fragen, ob es… ob man da noch was machen kann, dass er das Jahr noch schafft. Vielleicht ein Referat.“ Wunderbar. Das mochte Sebastian besonders gern. Während er innerlich jauchzte, seufzte er äußerlich tief, dann holte er aus: „Das stellen Sie sich so leicht vor. Sie wissen doch, dass die Zeugnisnote die Gesamtleistung des Schuljahres widerspiegelt. Das muss gewährleistet bleiben. Jetzt noch etwas zu erwarten ist reichlich kurzfristig. Tom hatte bereits zahlreiche Chancen, Stegreifaufgaben, Abfragen, die Mitarbeit und so weiter, und irgendwann ist es dann auch genug. Auch aus Gründen der Gerechtigkeit den Mitschülern gegenüber. Ich kann ja nicht jedem kurz vor Notenschluss so viele Referate ermöglichen, bis er irgendwann die Note erreicht hat, die ihm passt, wissen Sie?“ Ihre Schultern sanken während des Vortrags in gleichem Maße wie der Kopf, langsam aber stetig, bis die Mutter wie ein kleines Häuflein da saß, so wie damals mit 16, als sie ihr Vater bei einer unerlaubten Spritztour mit seinem Mercedes erwischt hatte. „Vielleicht gibt es aber doch noch eine Möglichkeit. Wie wichtig ist Ihnen denn das Erreichen des Klassenziels für Tom?“
Der Kopf der Mutter blieb weiter gesenkt, jedoch schielte sie aus dem Augenwinkel mit skeptischer Neugier zu Sebastian hinüber. Oder war es neugierige Skepsis? „Naja, es wäre mir schon sehr wichtig. Ich selbst habe kein Abitur und ich möchte, dass Tom es später mal leichter hat. Er soll alle Chancen bekommen, die ich nie hatte.“ „Sind sie verheiratet?“ war Sebastian direkt zur Stelle. Ihre Augenbrauen zuckten kurz. „Äh, ja. Also, wir, mein Mann und ich, also, wir leben getrennt, wissen Sie?“ Sebastian kraulte zufrieden ein Kinn. Er rutschte mit seinem Stuhl ein Stückchen näher an Toms Mutter heran und achtete darauf, dass sein Ellbogen den ihren ganz leicht berührte, dann blickter er ihr tief in die Augen. „Vielleicht kann ich noch was machen. Es handelt sich dabei um eine einmalige Ausnahme. Allerdings muss das unter uns bleiben.“ Sebastian setzt eine lange Pause, bevor er Frau Kocinskis Blick zum Tisch dirigierte und fortfuhr: „Sehen Sie hier.“ Der Mutter traten Schweißtropfen auf die Stirn. Sebastian drehte seinen Notizblock zu ihr und notierte etwas. Die Mutter folgte aufmerksam. Sie kniff die Augen zusammen und näherte sich ungläubig mit der Nase dem Blatt. Sie musste noch einmal genau hinsehen.
„200€ Sex? Was soll das heißen?“ Sie war verunsichert und blickte ratlos auf die Zahlen. „Überlegen Sie doch mal.“ erwiderte Sebastian ruhig. Es folgte eine längere Stille, die nur einer von beiden genoss. Die Mutter hob an, ihre Stimme zitterte „Wollen Sie Geld? 200€ für eine 4 im Zeugnis?“ Sie begann fast unverständlich stammeln. „Und ‚Sex’? Heißt das, heißt das, sie wollen mich, sie möchten mit mir, also privat? Ich könnte, also für Tom würde ich…“ Sebastian fiel ihr ins Wort. „Frau Komanski…“ – „Kocinski“ – „Aber Frau Kocinski. Wo denken Sie hin.“ Er atmete durch, sie hingegen hielt die Luft an. „Es ist ganz einfach. Wir schreiben bald. Sehr bald eine Stegreifaufgabe.“ „Sie meinen eine Ex?“ unterbrach sie. „Ein Ex. Es heißt ‚das Extemporale’. Ganz genau. Wir schreiben bald, sehr bald das 5. Extemporale. Genau genommen ist es ein Vokabeltest. Am 20.06. Hier sehen Sie diese kleinen Punkte. Entschuldigen Sie, wenn ich etwas undeutlich geschrieben habe. Es heißt <20.06. 5. Ex>. Ich hab Ihnen das jetzt aber nicht gesagt, verstanden? Mit dieser Note kann Tom seine Zeugnisnote noch beeinflussen, eine zwei sollte zum Vorrücken reichen. Was hätten Sie denn gedacht?“
Frau Kocinski wurde ganz still und sagte erst einmal gar nichts. Sebastian ließ es sich äußerlich nicht anmerken, aber genoss es, sie sprachlos zu sehen. Bei ihrem Sohn hatte er dies bisher in sieben Monaten nicht geschafft. Dann stand sie langsam auf und stammelte dabei schwer verständlich „Äh, ja, also gut. Ähm, danke. Ich werde… mit Tom reden und er wird sich hinsetzen und ganz fleißig lernen und…“ Sebastian unterbrach sie: „Können – er muss es können. Sicher, zackig, aus der Pistole geschossen. Sonst sehe ich schwarz für ihn.“ „Ja, also danke dann. am 20.06. Danke, also ich muss dann, Arbeit…“ Sie konnte keine Sekunde länger in diesem Raum bleiben, hatte die Türklinke schon in der Hand, als ihr Sebastian noch einmal, wie um sie zu quälen, die Hand entgegenstreckte, welche sie ohne Blickkontakt flüchtig schüttelte und sich dann so zackig aus dem Staub machte, als müsste sie noch einen Platz in der Arche Noah bekommen. Sebastian räumte seine Unterlagen zusammen und war sich sicher. Tom wird es nicht schaffen. Dieses Jahr schon, in Englisch stand er ja auf 4,45, er hätte auch gerne gewusst, wie die Mutter auf die 5 kommt, aber sie hatte ja nicht gefragt. Aber mit Abitur wird es eng. Viel zu verpeilt der Junge, und mit Unterstützung von daheim scheint es auch nicht weit her zu sein. Immerhin hatte er den Termin für den angekündigten Vokabeltest nicht nur den Schülern mitgeteilt, sondern vor einigen Tagen per Email auch den Eltern.