Episode II: Gerüchteküche

Christina taumelte ins Lehrerzimmer. Noch sechs Minuten Pause blieben ihr, und das auch nur, weil sie auf dem Weg hierher zwei bittstellende Schüler abgewimmelt und die nach ihr rufende Sekretärin ignoriert hatte. Sie brauchte noch Farbkreide für die nächste Stunde, und eine Folie war zu kopieren. Zunächst gab es allerdings Wichtigeres. Ein flüchtiger Blick in den Raum offenbarte ihr, dass in der Sofaecke bei ihren Mädels noch genau ein Platz frei war. Ihr Platz. Mit fünf kraftvollen Schritten durchquerte sie den Raum, positionierte sich millimetergenau vor ihrem Sofadrittel, löste wie auf Knopfdruck jede Muskelaktivität ihres Körpers gleichzeitig und ließ sich von der Schwerkraft energisch in den weichen, versifften Hort der Befreiung ziehen.

Christina atmete tief und langgezogen aus, so als stieße sie all den Stress, das Gift und den Frust, die sich seit dem Wochenende in ihrem Körper angesammelt hatten, weit von sich.  Sie war immer wieder überrascht, wie schnell die Erholung des Wochenendes sich auflöste. Immerhin lagen erst vier Schulstunden zwischen ihrem ruhigen Sonntagabend mit Rotwein auf der Terrasse und dem Jetzt. Egal, die Zeit war knapp. „Was gibt’s Neues?“ warf Christina in die Runde.

Es war keine Frage, sondern eine Aufforderung.

„Elise aus der 10b ist nicht mehr mit dem Consti zusammen. Vincent hat sich in Heikes Deutschstunde selbst befriedigt und sie tut jetzt so als wäre sie persönlich angegriffen. Und der Chef hat angeblich was mit der Oberstufensekretärin.“ tönte es von links. Ihre Kollegin Teresa war zuständig für Liebes- und Schmuddelkram. „Der Müller muss auf Kur. Angeblich Burn-Out. Und in Zukunft gibt es keine Vertretungen mehr durch Referendare und Praktikantinnen. Rat mal, wer das auffangen darf.“ wusste Nina beizutragen. Sie hatte immer ein Ohr im Sekretariat und bei der Schulleitung. Jetzt war Christina an der Reihe: „Ein Unbekannter hat den Schnapsschrank der Biofachschaft ausgeräumt. Darf keiner wissen. Jemand hat dem Gesundheitsamt einen anonymen Hinweis gegeben. Ab sofort darf der Hausmeister keine selbst belegten Brötchen mehr verkaufen. Außerdem hat jemand mit Exkrementen „Die Schule kack mich mal!!!!“ an eine Wand im Mädchenklo geschrieben.“ Christina lehnte sich entspannt zurück und atmete einmal tief durch. Es gab doch nichts Entspannenderes als Bingegossipping. Scheiß auf Kaffee!

Unplanmäßig setzte von gegenüber Dominik an, etwas zu sagen. Er saß nicht auf der Couch und war auch kein Teil der Gang, aber die Runde war gnädig gestimmt und durchaus daran interessiert, ob der Jungspund auch was Interessantes wusste. Sie ließen ihn, ohne zu einladend zu wirken, gewähren. „Die Drucker sind wieder alle im verlängerten Rückgrat. Aber wenn man auf Knien rüber rutscht, darf man zur Not mal was im Direktorat ausdrucken.“ Die Damen waren angenehm überrascht. Oho, jemand mit Draht zur Technik. Nicht gerade hochinteressant, aber ein Bereich, der noch nicht abgedeckt war. Vielleicht würde man in Zukunft darauf zurückgreifen.

Für Christina war nun ein nahezu idealer Entspannungszustand erreicht, den sie jedoch nur für wenige Sekunden halten konnte. Dann bemerkte sie die zweite Chefin, die ihren Kopf in Lehrerzimmer streckte und nach Etwas Ausschau hielt. Nicht gut. Gute Nachrichten überbrachte der Chef gerne selbst. Irgendjemand würde gleich eine Schwangerschaftsvertretung bekommen. Oder eine Klassleitung für einen erkrankten Kollegen. Oder, noch viel schlimmer, das Protokoll bei der nächsten Konferenz. Sie steuerte direkt auf die Sofaecke zu. Christina wurde achtsam. Jetzt hieß es, sich jede Antwort gut zu überlegen.

„Herr Hagen,“ sie richtete sich an Dominik, „was haben sie in den kommenden Kurzferien vor?“ Dieser zögerte nur minimal: „Nichts Besonderes, korrigieren, erholen.“ Falsche Antwort, dachte sich Christina. „Sie fahren also nicht weg?“ – „Nein.“ – Völlig falsche Antwort, dachte sie Christina. Sie konnte erahnen, wie es weitergehen würde uns musste innerlich kichern. Die zweite Chefin nahm die Vorlage gerne an: „Das ist ja wunderbar. Die Schule muss doch jedes Jahr eine Lehrkraft zur Aufsicht im Staatsexamen abstellen. Das können Sie doch machen. Ist nur ein Vormittag und wird auch bezahlt. – Ja, um 6.30 Uhr aufstehen, 6 Stunden Sterbenslangeweile und dafür popelige 20€, erinnerte sich Christina an ihre eigene Erfahrung. Ihr Mitleid mit Dominik hielt sich in Grenzen. Dieser versuchte auch nicht einmal sich herauszuwinden. „Äh, ja, geht klar. Mach ich gerne.“ Ach, ein Aufgabenannehmer, dachte sich Christina erfreut. Das war ja praktisch, der darf gerne noch öfter in ihrer Sitzecke hocken. Christina machte diesen Job schon lange genug und wusste, dass man entweder zu dem Aufgabenabgebern oder den Aufgabenannehmern gehörte. Um alt zu werden, durfte man nicht zu lange der zweiten Gruppe angehören. Sie hatte es schnell gelernt und auch der junge Kollege würde es eines Tages einsehen. Irgendwann würde sie es ihm erklären, aber jetzt, jetzt noch nicht. Er war noch zu nützlich.

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